Freitag, April 03, 2020

kleine Rechtsgeschichte für Spätgeborene (23. März ff.)

Viele Menschen, insbesondere Medienschaffende, kamen erst am oder nach dem 23. März 2020 auf die Welt. Für sie ist eine "Kontaktsperre" und "Ausgangsbeschränkung" die normalste und selbstverständlichste Sache auf der Welt, denn sie sind ja mit ihr aufgewachsen. Eine Ausgangssperre? Was ist das, Boomer? "Es gibt in Deutschland keine Ausgangssperren", hört man immer wieder - gerade auch aus den öffentlich-rechtlichen Medien jener sechs Bundesländer Bayern, Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und dem Saarland, in denen die gesamte Bevölkerung seit dem 23. März 2020 nur noch unter staatlich überwachtem Vorbehalt ihre Wohnungen verlassen, bzw. den öffentlichen Raum betreten darf.

Für diese mit der Gnade der späten Geburt gesegneten habe ich mal nachgeschaut, welche Bedeutung die Begriffe "Kontaktsperre" und "Ausgangsbeschränkung" vor dem 23. März 2020 hatten. Zunächst die Ausgangsbeschränkung - sie ist ein Begriff aus dem Wehrrecht. Man findet sie in der
Wehrdisziplinarordnung (WDO):
§ 22 Arten der einfachen Disziplinarmaßnahmen
(1) Die Disziplinarmaßnahmen, die von den Disziplinarvorgesetzen verhängt werden können (einfache Disziplinarmaßnahmen), sind:
1. Verweis,
2. strenger Verweis,
3. Disziplinarbuße,
4. Ausgangsbeschränkung
5. Disziplinararrest
(2) Nebeneinander können verhängt werden:
1. Disziplinararrest und Ausgangsbeschränkung
2. bei unerlaubter Abwesenheit des Soldaten von mehr als einem Tag Ausgangsbeschränkung und Disziplinarbuße oder Disziplinararrest und Disziplinarbuße.

Es handelt sich also um einen Stubenarrest für Soldaten und Wehrpflichtige, die das Wochenende über zu viel gefeiert haben (Spaßgesellschaft) und darum in verantwortungsloser Weise (typisch Jugend) nicht rechtzeitig auf der Kaserne erschienen.

Das Kontaktsperregesetz ist ein ganz anderes Kaliber. Es wurde im "Deutschen Herbst" 1977 beschlossen, um die Strafgefangenen der RAF von ihren Anwälten zu isolieren; man verdächtigte sie, aus der Haft heraus an der Koordinierung von Anschlägen beteiligt zu sein, insbesondere an der Entführung des Hanns-Martin Schleyer. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) sagte dazu: „Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will, der muss innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was im Rechtsstaat erlaubt ist“. Das Gesetz war umstritten, was man an der geradezu peniblen Eingrenzung der kleinen Gruppe von Strafgefangenen sieht, gegen die es ausschließlich angewandt werden sollte und durfte. Nach dem Tod von Baader, Ensslin, Raspe und Schleyer wurde es nie wieder angewandt, aber auch nie formal aufgehoben:

Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz (Kontaktsperregesetz).  § 31 Besteht eine gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit einer Person, begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, daß die Gefahr von einer terroristischen Vereinigung ausgeht, und ist es zur Abwehr dieser Gefahr geboten, jedwede Verbindung von Gefangenen untereinander und mit der Außenwelt einschließlich des schriftlichen und mündlichen Verkehrs mit dem Verteidiger zu unterbrechen, so kann eine entsprechende Feststellung getroffen werden. Die Feststellung darf sich nur auf Gefangene beziehen, die wegen einer Straftat nach § 129 a des Strafgesetzbuches oder wegen einer der in dieser Vorschrift bezeichneten Straftaten rechtskräftig verurteilt sind oder gegen die ein Haftbefehl wegen des Verdachts einer solchen Straftat besteht; das gleiche gilt für solche Gefangene, die wegen einer anderen Straftat verurteilt oder die wegen des Verdachts einer anderen Straftat in Haft sind und gegen die der dringende Verdacht besteht, daß sie diese Tat im Zusammenhang mit einer Tat nach § 129 a des Strafgesetzbuches begangen haben. Die Feststellung ist auf bestimmte Gefangene oder Gruppen von Gefangenen zu beschränken, wenn dies zur Abwehr der Gefahr ausreicht

Es ist völlig nachvollziehbar, dass der deutsche Staat heute, in der Coronakrise, Euphemismen wählt, um die gegenwärtigen Maßnahmen zu beschreiben. Ein Land, das sich seit mindestens einem halben Jahrhundert als Krone der Demokratie und Gipfel der Rechtsstaatlichkeit feiert, kann nicht einfach Millionen seiner Bürger unter "Ausgangssperre" stellen, das ist undenkbar. Aber welche Euphemismen den "Entscheidern" und "Verantwortungsträgern" spontan einfielen, um die undenkbare Ausgangssperre dann eben doch zu beschließen, das ist schon bemerkenswert: sie stammen aus der Fachsprache der Kasernen, des Drills, der Hochsicherheitstrakte und der Terrorismusbekämpfung - die letztere selbst in ihrer von der Gefahren- oder auch Feindbestimmung her verglichen mit der heutigen Krise von geradezu rührender Bescheidenheit geprägt war - und 1977 doch von vielen als bürgerkriegsähnlich begriffen wurde.

Und weil das alles so auffällig und katastrophal undemokratisch ist, und absolut nichts mehr mit dem Staat zu tun hat, wie man ihn sich bürgerlich noch vor zwei Wochen vorgestellt hat, muss die gesamte Gesellschaft, allen voran ihre Medienschaffenden, einen kollektiven Orwell hinlegen um die Sache zu rationalisieren: es. gibt. in. Deutschland. keine. Ausgangssperre. Wir waren schon immer im Krieg mit dem Coronavirus.

Das ist der eine Grund. Der andere Grund scheint der zu sein, dass man sich den Begriff für noch strengere Maßnahmen aufheben möchte. Qualitativ ist dieser mögliche, weitere Schritt eigentlich egal. Seit 23. März steht die Freiheit aller sich in Bayern, Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Saarland befindlichen Personen unter dem Vorbehalt und dem Gutdünken der Staatsgewalt. Welche "Ausnahmen" gemacht werden ist ein Detail. Wir wären alle gut beraten, uns nicht auf Diskussionen einzulassen, ob man jetzt im Park auf einer Decke sitzen darf oder ob Schach eine zulässige sportliche Betätigung ist oder Motorradfahren - sondern laut und unmissverständlich vom Staat zu fordern, er solle sich auf solche Maßnahmen beschränken, die nachgewiesenermaßen geeignet sind um eine Epidemie zu bekämpfen - anstatt aus "Fürsorge" das Land in einen Menschenzoo umzubauen. Wir lieben doch alle Menschen, wir setzten uns dafür ein. So. Ich muss jetzt zur Fütterung.


22.11.22: Bundesverwaltungsgericht: Ausgangsbeschränkungen in Bayern waren unverhältnismäßig und unzulässig

Keine Kommentare: